Welche Themen und Projekte sind bei euch aktuell ganz oben auf der Prioritätenliste?
Marc Stampfli: Grundsätzlich stehen bei uns AI Agents, digitale Zwillinge von Fabriken und deren Lieferketten, Wirkstoffforschung sowie seit Kurzem auch humanoide Roboter ganz oben auf der Agenda. Zudem arbeiten wir europaweit an der Realisierung grosser AI Factories – also Rechenzentren, die speziell für KI-Anwendungen konzipiert sind.
Und wie sieht eure Roadmap für die Schweiz aus?
Marc Stampfli: Eine formale Roadmap können wir leider nicht veröffentlichen. Aktuell laufen in der Schweiz mehrere Projekte rund um AI Agents mit grossen Unternehmen. Mein persönliches Ziel wäre es, ein souveränes KI-Rechenzentrum – eine sogenannte AI Factory – in der Schweiz zu etablieren.
Was sind aus eurer Sicht die wichtigsten Innovationen, die wir von NVIDIA in den nächsten 12 bis 24 Monaten erwarten können?
Marc Stampfli: Kurzfristig liegt der Fokus klar auf AI Agents. Viele digitale Prozesse lassen sich bald nahezu vollständig automatisieren. Jeder Mitarbeitende wird mit einem persönlichen AI Agent arbeiten – vergleichbar mit einem digitalen Assistenten. Zudem werden wir erleben, dass humanoide Roboter auch in der Schweiz produziert werden. Szenarien wie das eigenständige Entsorgen eines Abfallsacks oder das Ausräumen eines Geschirrspülers sind mittelfristig realistisch.
Welche Prioritäten setzt NVIDIA aktuell in Bezug auf Partnerschaften mit lokalen Unternehmen oder der öffentlichen Hand in der Schweiz?
Marc Stampfli: Lokale Partnerschaften sind für uns essenziell – unsere Partner verstehen die Marktbedingungen und stehen nahe am Kunden. Gleichzeitig müssen sie sich in der Ära der KI strategisch neu ausrichten, da vielfach noch tiefgreifendes Know-how fehlt. Auch bei der öffentlichen Hand sehen wir ein Umdenken: Die Public Cloud ist nicht mehr alternativlos. Themen wie souveräne IT und souveräne KI gewinnen an Relevanz, getrieben durch geopolitische Unsicherheiten. Unternehmen können heute grosse Sprachmodelle in vergleichbarer Qualität selbst betreiben – mit dem nötigen Know-how. Wer sich nur auf externe Dienste verlässt, riskiert, den Wettbewerbsvorteil zu verlieren.
Im Frühling habt ihr auf eurer Entwicklerkonferenz Pläne für humanoide Roboter vorgestellt. Kannst du die Pläne kurz erklären? In welchen Branchen und Tätigkeiten werden Roboter in den nächsten Jahren führend werden?
Marc Stampfli: Wir verfolgen das Ziel, Roboter für vielfältige Aufgaben zugänglich zu machen. Heute sind Industrieroboter oft in «Käfigen» eingeschlossen – wir wollen sie befreien. Dafür benötigen humanoide Roboter mehr Sensorik und ein präzises physikalisches Weltmodell. Genau daran arbeiten wir: ein physikalisches Foundation Model, das Robotern ein realistisches Verständnis ihrer Umgebung ermöglicht.
Euer CEO Jensen Huang sprach von AI Factories, die die Entwicklung von Robotern beschleunigen werden. NVIDIA will alle Bausteine abdecken: vom Training und Testen der KI-Software bis zum Einsatz in der echten Welt. Mithilfe digitaler Zwillinge können Entwickler in kurzer Zeit viele Simulationen durchspielen und die Realisierung von KI-Anwendungen beschleunigen.
Marc Stampfli: Richtig – AI Agents und Softwareentwicklung für Roboter erfordern spezi- Von Agenten bis Factories: So entsteht die neue KI-Realität NVIDIA // AI Agents, spezialisierte Rechenzentren, digitale Zwillinge, humanoide Roboter: Marc Stampfli von NVIDIA und Pascal Wild von ti&m sprechen über die Entwicklung von KI, die dahinterliegende Infrastruktur und die KI-Readiness der Schweizer Wirtschaft und Verwaltung. Grafik: ti&m / freepik ti&m Special «Swiss Software und KI» 2025 23 alisierte Rechenzentren mit optimierter Architektur. Es reicht nicht, klassische Infrastruktur zu verwenden. Wir sprechen hier von eigens konzipierten Systemen mit spezifischen CPUs, GPUs, Netzwerken und Software – wir nennen sie AI Factories. Ein solches Rechenzentrum im Stil der europäischen oder amerikanischen Gigafactories auch in der Schweiz zu realisieren, wäre ein strategischer Meilenstein. Nicht die Grösse des Landes, sondern der Zugang zu dieser Infrastruktur entscheidet über die Innovationskraft.
Wie siehst du die Schweiz bei der Adaption von KI im internationalen Vergleich aufgestellt? Wo siehst du Nachholbedarf?
Marc Stampfli: Die Schweiz ist forschungsseitig hervorragend aufgestellt – mit weltweit führenden Professoren und Talenten. Was fehlt, ist der konsequente Aufbau eigener AI Factories, um diese Stärke zu halten. Sonst riskieren wir, dass die besten Köpfe ins Ausland abwandern. Zudem fehlt es in vielen Verwaltungsräten an technischer Kompetenz im Bereich KI. In meiner Funktion spreche ich oft mit solchen Gremien, aber die Ansprechpersonen für strategische KI-Fragen sind selten. Hier besteht klarer Handlungsbedarf.
Weltweit stellen Rechenzentren auf beschleunigtes Rechnen – Accelerated Computing – um, mit eurer Hardware- Plattform seid ihr in diesem Bereich weltweit führend. Mit dem NVIDIA AI Enterprise Software Stack bietet ihr auch eine Softwarelösung für die Entwicklung und den Betrieb von KI-Anwendungen an. Wie unterstützt ihr Firmen konkret bei der Umsetzung ihrer KI-Strategie?
Marc Stampfli: Wir unterstützen Unternehmen dabei, unsere Hardware und Software als ganzheitliche Plattform zu nutzen. NVIDIA AI Enterprise ist ein Werkzeug dazu – entscheidend ist die Interoperabilität: in der Cloud, On-Prem oder am Edge, mit lizenzierten wie auch Open-Source-Modellen. Prompt Engineering oder native Public-Cloud-Dienste allein reichen nicht für nachhaltige KIStrategien. Darüber hinaus begleiten wir Unternehmen strategisch, zeigen branchenspezifische Einsatzmöglichkeiten auf und entwickeln dedizierte Tools – etwa für die Medikamentenentwicklung, Robotik, Finanzmodellierung oder physikalische Simulation.
Marc Stampfli hat über die Relevanz von AI Agents gesprochen. Auch von unseren Kunden werden Projekte in diesem Bereich stark nachgefragt. Um welche Anwendungen geht es da konkret?
Pascal Wild: Unsere Kunden setzen zunehmend auf Agenten, die eigenständig Aufgaben koordinieren, mit Systemen interagieren und über Kontextwissen verfügen. In der Finanzbranche unterstützen Agenten insbesondere bei der Vor- und Nachbereitung von Kundengesprächen: Sie analysieren Kundenprofile, fassen relevante Informationen zusammen und dokumentieren Gesprächsergebnisse automatisiert – was den administrativen Aufwand erheblich reduziert. In der Versicherungswelt werden unstrukturierte Belege wie Zahnarzt- oder Apothekenrechnungen automatisch klassifiziert, ausgelesen und in interne Prozesse überführt. Besonders relevant ist der Einsatz in der öffentlichen Verwaltung: Agenten übernehmen dort zeitraubende Routinetätigkeiten – etwa bei Anträgen für Ausweise, Sozialversicherungen oder Baugenehmigungen. Sie kombinieren vorhandene Datenquellen, erkennen fehlende Angaben und melden diese an die Verantwortlichen. Je nach Digitalisierungsgrad werden fehlende Angaben sogar selbstständig beim Kunden per E-Mail angefragt. Das entlastet Bürgerinnen und Bürger ebenso wie Sachbearbeitende von repetitiver Datenerfassung und schafft Zeit für die wirklich wichtigen Aufgaben. Solche Lösungen funktionieren dynamischer, wenn mehrere spezialisierte Agenten über einen gemeinsamen Kontext – ein sogenanntes Multiagentensystem – hinweg orchestriert werden: ein Extraktionsagent, der Daten aus verschiedenen Quellen zusammenträgt, ein Prüfungsagent, der die Daten plausibilisiert, ein weiterer, der Folgeprozesse startet. Diese Architektur ermöglicht flexible, modulare und skalierbare Anwendungen für dynamische und regulierte Geschäftsbereiche.
Softwarefirmen wie ti&m sind das Bindeglied zwischen Big Techs wie NVIDIA und der Schweizer Wirtschaft. Wie sieht du die Rolle von ti&m als lokaler KI-Entwicklungs- und Integrationspartner in der Zukunft?
Pascal Wild: Unsere Aufgabe ist es, innovative Technologie in den lokalen Unternehmenskontext zu übersetzen. Als Bindeglied zwischen Plattformanbietern wie NVIDIA und der Schweizer Wirtschaft verbinden wir technologische Exzellenz mit tiefem Branchenverständnis. Mit unserer GenAI Toolbox, methodischer Kompetenz und Erfahrung aus Projekten in Banken, Versicherungen und Verwaltung realisieren wir KI-Anwendungen, die nicht nur leistungsfähig, sondern auch sicher, skalierbar und nachvollziehbar sind.
Zum Schluss: Was begeistert euch persönlich am meisten an der Entwicklung von KI?
Marc Stampfli: Was mich persönlich begeistert: Ich lerne täglich neue, konkrete Anwendungen für KI kennen. Durch meine Rolle erhalte ich Einblick in verschiedenste Projekte über alle Branchen hinweg. Besonders faszinierend finde ich derzeit die Fortschritte bei humanoiden Robotern. Hier steht uns in naher Zukunft ein echter Technologiesprung bevor. Ich lebe in einer sich exponentiell entwickelnden Industrie – das ist extrem motivierend, fordert aber auch viel Energie.
Pascal Wild: Mich fasziniert, wie sich KI von einem Werkzeug zur Entscheidungsunterstützung hin zu einem intelligenten Partner im Arbeitsalltag entwickelt. Wenn Agenten mitdenken, sich an frühere Interaktionen erinnern und eigenständig handeln können, entsteht ein ganz neues Level an Effizienz und Intelligenz.